Der amerikanische Traum und das kurze Streichholz

Um wieder einmal etwas zu tun, was ich noch nie zuvor getan habe, schaute ich mir am vergangenen Sonntag den Super Bowl an, das Endspiel im American Football. In den USA ist es eins der wichtigsten Ereignisse überhaupt, vergleichbar am ehesten mit dem Finale der Fußball-WM unter deutscher Beteiligung. Trotz meiner Regelverständnisschwierigkeiten, der pausenlosen Werbeunterbrechungen und eines halbstündigen Stromausfalls im Stadion war es ein spannendes und unterhaltsames Spiel. Dennoch verspürte ich den ganzen Abend lang eine leise Irritation. Irgendetwas an der Fernsehübertragung störte mich. Erst am nächsten Tag konnte ich den Finger darauf legen.

Was mich irritierte, war die Art der Berichterstattung. Die Teams, die einzelnen Beteiligten, das Spiel selbst – alles wurde in eine möglichst dramatische Erzählung verpackt. Das ging schon im Vorfeld los. Einzelne Starspieler erschienen in pathosschwangeren TV-Spots, die auszustrahlen Millionen Dollar kostete.

In den Medien wurde das Spiel zwischen den Baltimore Ravens und den San Francisco 49ers abwechselnd zum Bruderkampf der Trainer und zum Duell der Quarterbacks hochstilisiert. Nach Anpfiff des Spiels wurde dann jeder einzelne Spielzug von den Kommentatoren analysiert, bewertet und mit Daten aus der NFL-Historie unterfüttert. Seit Sonntag weiß ich zum Beispiel, dass vor Jacoby Jones noch nie ein Spieler nach einem Kickoff einen 109-Yards-Lauf zum Touchdown verwandelt hat.

Doch anstatt Jacobys Lauf immer wieder aufs Neue in der Wiederholung anzuschauen, hätte ich lieber gesehen, was auf dem Spielfeld passiert, wenn die Uhr nicht läuft. Ich hätte mir gewünscht, nicht nur die Starspieler zu sehen, sondern auch mal den Rest des Teams. Ich hätte gerne mehr Totalen gehabt, mehr vom Publikum gesehen, mehr Hintergrundinformationen erhalten. Doch was ich vorgesetzt bekam, war wenig anderes als Heldenverehrung.

Die Amerikaner lieben ihre kleinen und großen Helden. Ob Politiker oder Unternehmer, Künstler, Sportler oder Philantrop, wer hierzulande etwas Außerordentliches leistet, wird von seinen Landsleuten gefeiert, wenn nicht gar verehrt.

Im Gegensatz dazu sind wir Deutschen in Sachen Heldenverehrung eher unterkühlt. Ich bin keine Ausnahme. Trotzdem denke ich nicht, dass meine kulturell ererbte Skepsis der Grund dafür ist, warum ich diesen amerikanischen Wesenszug so kritisch betrachte. Vielmehr liegt es daran, dass diese Begeisterung auch ihre Schattenseiten haben kann.

Sie kann beispielsweise so weit reichen, dass weniger schöne Dinge aus dem Leben des Verehrten getrost unter den Teppich gekehrt werden. In New York schwärmte mir einmal jemand von der Frick Collection vor, einem Museum, das aus der Kunstsammlung des Großindustriellen Henry Clay Frick hervorgegangen ist. Frick selbst, erwähnte mein Gesprächspartner beiläufig, solle ein herzloser Menschenschinder gewesen sein. Aber seine Sammlung, die sei einfach fantastisch.

Gestatten: Henry Clay Frick. Philantrop und Menschenschinder. (Bildquelle: Wikimedia Commons)

Ich glaube, dass das eine das andere nicht wettmacht. Dass man einen Footballspieler, der erst seine Freundin und dann sich selbst erschießt, nicht als „gütigen, selbstlosen, hart arbeitenden, engagierten Bürger“ beschreiben sollte. Dass man Barack Obama vorwerfen darf und muss, die Schließung von Guantanamo zu verschleppen und völkerrechtswidrige gezielte Tötungen in Auftrag zu geben, und mag er ein noch so viel besserer Präsident sein, als es Mitt Romney jemals gewesen wäre.

Ich halte es für angemessen, die Leistungen eines Menschen als Ganzes zu betrachten. Viele Amerikaner scheinen es hingegen gewohnt zu sein, sich die Rosinen herauszupicken. Das zieht sich nicht nur durch Sport oder Politik, sondern durch sämtliche Teile des amerikanischen Lebens. Im Ratgeber „Marketing for Scientists“ beispielsweise gibt Autor Marc J. Kuchner Tipps, um sich besser darzustellen und die „eigene Marke“ anzupreisen. Einer seiner Ratschläge lautet:

If You Can’t Be First in a Category, Set Up a New Category You Can Be First In.

(Wenn du in keiner Kategorie der erste sein kannst, dann finde eine neue, in der du es bist.)

Dieses Selbstmarketing ist symptomatisch und führt zu teilweise absurden semantischen Verrenkungen. Finding the next Earth ist ein Film über die Suche nach Planeten außerhalb unseres Sonnensystems. Unter anderem  geht es darin um den Wettlauf zwischen zwei Teams von Astrophysikern in den 90ern, wer diejenigen sein würden, die den ersten Exoplaneten entdecken. In diesem Videoclip erzählt der amerikanische Astrophysiker Geoff Marcy von dem Moment, als er „zum ersten Mal einen Exoplaneten entdeckte“. Das klingt, als wäre er aus dem Rennen als Sieger herausgegangen. Dabei wurde der erste Exoplanet nicht von ihm, sondern von Michel Mayors Team in Genf entdeckt. Im Kampf um Reputation und Forschungsgelder mögen solch irreführende Formulierungen geschickt sein, aber sie werden den Tatsachen nicht gerecht.

Geoff Marcy, Planetenjäger – hat er die Nase vorn? (Bildquelle: Screenshot von National Geographic TV / http://natgeotv.com/ca/known-universe/videos/geoff-marcy-planets)

Das ist der Grund meiner Irritation, bei den Exoplaneten ebenso wie bei der Berichterstattung zum Super Bowl. Ich finde es teilweise geradezu unlauter, wie ein solches Narrativ das Geschehene nicht wahrheitsgetreu widergibt, sondern als dramatisierte Version. Diese mag spannender sein und dem Publikum besser gefallen, aber sie ist nicht das, was sie zu sein vorgibt.

Ein Footballspiel als ein Duell zwischen zwei Personen darzustellen ist keine komplette Abkehr von der Realiität. Aber es verzerrt sie in einer Weise, die mir nicht behagt. Ob das eine Team gewinnt oder das andere, hängt nicht allein von der individuellen Leistung einzelner Beteiligter ab. Es gibt eine Vielzahl von Faktoren, die den Ausgang des Spiels beeinflussen können: Wetter, Biorhythmus bzw. Tagesform, eine nahende Erkältung, ob gedopt wird und welches Team dafür den besseren Arzt hat, ob die Mannschaft die Anweisungen des Trainers richtig versteht und in seinem Sinne umsetzt, wie gut das Schiedsrichtergespann zusammenarbeitet, belastende Ereignisse im Privatleben einzelner Spieler, Losglück, Verletzungspech. Solche Elemente kamen in der Super-Bowl-Berichterstattung allenfalls am Rande vor.

Mir ist durchaus bewusst, dass die genannten Faktoren für Außenstehende schwer zu erfassen und zu bewerten sind und dass sie dadurch für Berichterstatter und Publikum weniger attraktiv sind. Es ist eine schwierige journalistische Aufgabe, komplexe Zusammenhänge zu erkennen und in angemessener, aber verständlicher Weise zu erklären. Und selbst mit der bestmöglichen Erläuterung ist es für Leser, Hörer, Zuschauer immer noch eine Herausforderung, ein genügend kompliziertes Problem in all seinen Facetten zu verstehen. Ich für meinen Teil kann zum Beispiel nicht behaupten, dass ich die Hintergründe der Finanzkrise komplett durchdrungen hätte, und das, obwohl ich mich durchaus damit beschäftigt habe. Aber sie ist eben ein hochkomplexes Thema, und genau darum brauchen wir gute Journalisten, die verständlich darüber berichten.

In einer von Großkonzernen beherrschten Medienlandschaft wie den USA sind Nachrichten nicht mehr als eine Ware, die Profit bringen soll. Komplizierte, gut recherchierte Berichte sind teuer und bringen nicht viel Quote. Sie verkaufen sich schlecht, und darum sieht man sie in den USA immer seltener (und nicht nur dort). Bei CNN, einem der größten Nachrichtensender der Welt, wird derzeit die Abteilung für investigativen Journalismus kaputt gespart. Traurig, aber wahr: mit einfach gestrickten Geschichten ist das meiste Geld zu verdienen.

Das simpelste Erzählmuster, das es gibt, ist die Heldengeschichte: Eine Person verlässt ihre angestammte Umgebung, überwindet viele Widerstände und erreicht schließlich ihr Ziel. Eine solche Geschichte ist leicht zu erzählen und noch leichter zu begreifen. Von Homers Odyssee über die Klassiker der Literaturgeschichte bis hin zu Harry Potter und den Tributen von Panem, ob Märchen, Theaterstück oder Hollywood-Blockbuster: Praktisch alle Geschichten, die die Menschen einander je erzählt haben, funktionieren nach diesem Schema. Ich weiß, wovon ich rede. Meine Bücher sind keine Ausnahme.

Zum Beispiel Schwarzspeicher. Darin wollte ich eine Geschichte über die Angst vor dem Terror erzählen, die seit dem 11. September 2001 grassiert und die den alten Widerstreit zwischen Sicherheit und Freiheit in einer Weise neu befeuert, die mir Sorgen bereitet. Weil das ein umfangreicher und schwieriger Themenkomplex ist und weil ich keine Monographie, sondern einen Roman schreiben wollte, habe ich genau das getan, was ich ein paar Absätze weiter oben vehement kritisiere: Ich habe ein komplexes Thema verdichtet und in einer Weise personalisiert, die es mir ermöglicht hat, es als das Aufeinandertreffen der beiden Figuren Meph und Westphal zu erzählen.

Warum ist dieses Vorgehen bei Schwarzspeicher in Ordnung, aber nicht bei Zeitungsartikeln zum Thema Terrorangst oder bei der Super-Bowl-Berichterstattung? Weil ich kein Journalist bin. Ich bin Schriftsteller, und als solcher erhebe ich nicht den Anspruch, die Realität in meinen Romanen so getreu wie möglich abzubilden. Zwar bemühe ich mich, in jedem meiner Bücher etwas Wahres über das Wesen der Menschen und die Beschaffenheit der Welt zum Ausdruck zu bringen, aber ich gebe nicht vor, dies mit anderen Werkzeugen als der Fiktion zu tun. Das zu behaupten wäre unlauter und falsch.

Wer eine wahre Begebenheit erzählt, erhält – zurecht – einen stattlichen Glaubwürdigkeitsbonus. Die Moral von der Geschicht‘ bekommt vom Publikum wesentlich mehr Gewicht zugesprochen als die einer ausgedachten Erzählung, weil die Frage, ob so etwas im echten Leben wirklich passieren könnte, bereits beantwortet ist. Das Prädikat „wahre Geschichte“ ist ein Multiplikator für die Wucht der Geschichte (und oftmals auch für das Geld, das damit verdient wird).

Weil das so ist, wird zurzeit beispielsweise heftig über Zero Dark Thirty gestritten. Es geht darum, dass der Film die Schlussfolgerung nahelegt, Osama Bin Laden wäre nicht gefunden worden, wenn die USA nicht gegen die Genfer Konvention verstoßen und gefangene Verdächtige gefoltert hätten. Dabei ist Zero Dark Thirty keineswegs der erste Film, der sich mit Folter nach 9/11 beschäftigt. Drei Jahre zuvor kam zum Beispiel Unthinkable in die Kinos, ohne jedoch nennenswerte Wellen in den Feuilletons zu schlagen Das lag keineswegs daran, dass in diesem Film weniger unmenschlich gefoltert wird als in Zero Dark Thirty. Aber die Handlung von Unthinkable ist ausgedacht, und darum ist man als Zuschauer nicht gezwungen, sich ihr zu stellen: Schlimm, schlimm, was da auf der Leinwand passiert, aber es ist ja nur gespielt.

Zero Dark Thirty hat Unthinkable die anfängliche Einblendung voraus, dass die Welt so und nicht anders beschaffen sei, ob es einem gefällt oder nicht. Er ist, nebenbei bemerkt, für 5 Oscars nominiert.

Schriftsteller und Journalisten bedienen sich derselben Techniken, um ihre Stoffe interessant und ansprechend zu verpacken. Dennoch ist den einen mehr erlaubt als den anderen. Wer wie ich ausgedachte Stoffe erzählt, kann seine Figuren, Schauplätze und Handlung nach Belieben verändern. Bei einer wahren Geschichte ist das nicht erlaubt, oder allenfalls in engen Grenzen. Man kann dies als zwei Seiten einer Medaille betrachten: Wer eine wahre Begebenheit erzählt, kriegt mehr Wucht zugesprochen, aber er muss sich auch an die Wahrheit halten.

Und diese ist selten simpel. In der Regel ist sie widersprüchlich oder unbequem, oder beides. In jedem Fall ist sie komplizierter als die Heldengeschichten, die jetzt über den Super Bowl erzählt werden.

Es heißt, die Baltimore Ravens hätten für ihren Sieg kein Glück gebraucht, sie hätten alles richtig gemacht haben. Diese Aussage ist sinnlos und unmöglich zu überprüfen; niemand kann sagen, ob die Ravens auch mit einer anderen Teamaufstellung gewonnen hätten. Hinterher lässt sich leicht behaupten, die Taktik des Siegers ist aufgegangen. Unterschlagen wird dabei, dass Glück und Pech trotz allem eine Rolle gespielt haben, denn im echten Leben ist es nicht möglich, sämtliche Bedingungen für Erfolg oder Misserfolg unter Kontrolle zu bekommen.

Abgesehen hätte man auch über die 49ers genau gesagt, dass sie alles richtig gemacht habe, wenn sie anstelle des Teams aus Baltimore gewonnen hätten. In der Rhetorik nennt man diese Technik „die Torpfosten verschieben“: Man schießt erst und schiebt danach das Tor vor die getroffene Stelle, in diesem Fall vor die Ravens.

Das Hochstilisieren des Siegers funktioniert beim Super Bowl ebenso wie bei jedem anderen Wettstreit oder Konkurrenzkampf. Ja, Google ist auch deshalb zur weltweit führenden Suchmaschine geworden, weil sich Larry Page und Sergej Brin einen so guten Suchalgorithmus ausgedacht haben. Aber es hatte auch andere Gründe, etwa dass Yahoo und Co. den neuen Konkurrenten lange unterschätzt haben. Hätten die damaligen Marktführer schneller reagiert, oder hätten Page und Brin, sagen wir, wegen einer Autopanne ein Treffen mit potenziellen Risikokapitalgebern verpasst, stünde das Wort googeln heute vielleicht nicht im Duden. Trotzdem höre ich keinen Amerikaner sagen, dass bei Google Glück im Spiel war. Oder Apple: Natürlich war es ein kluger Schachzug, Steve Jobs 1996 wieder ins Unternehmen zu holen. Aber wenn keine verlässlichen Mobilfunknetze mit genügend hoher Bandbreite zur Verfügung gestanden hätten, hätte das iPhone seiner Zeit zu weit voraus sein können, wäre wie Da Vincis Hubschrauber eine Idee geblieben und nicht zum Inbegriff des Smartphones geworden. Über diesen glücklichen Zufall liest man wenig, umso mehr dagegen über das Genie Steve Jobs‘.

Erfolg ist nicht vollständig planbar. Natürlich hängt er von den Fähigkeiten und der Willensstärke des Einzelnen ab, aber eben nicht nur. Das entscheidende Quäntchen Glück, das Zünglein an der Waage spielt immer eine Rolle; Umstände, die sich nicht beeinflussen und oft noch nicht einmal exakt identifizieren lassen. Es steht jedem frei, solche vagen Gründe – im allgemeinen Sprachgebrauch Glück bzw. Pech genannt – wegzudiskutieren oder zu verleugnen. Der Realität gerecht wird das nicht.

Vielleicht ist das einer der subtilen, aber gewaltigen Unterschiede zwischen Europa und Amerika: dass man in den USA weniger an Glück oder Pech glaubt. Hierzulande spricht man nicht von Zufall, sondern von Vorsehung, Schicksal und Bestimmung – God’s Own Country eben. Die Welt wird als vollständig wägbar gedeutet. Wenn das, was passieren wird, ohnehin geschrieben steht, ist es konsequent, sich nicht für die launenhafte Fortuna zu interessieren.

Der amerikanische Traum: Du kannst es ganz nach oben schaffen, wenn du dich nur genügend anstrengst. Diese Indivualisierung des Erfolgs, das kollektive Ausblenden der Tatsache, dass man sich nach Leibeskräften anstrengen und seine Ziele trotzdem nicht erreichen kann, ist Segen und Fluch zugleich. Segen, weil Hoffnung ein mächtiger Motivator ist und für den Tellerwäscher der Traum vom Millionär attraktiver ist als der vom Beikoch; die USA sind nicht durch Zufall (sic) zur Supermacht geworden. Fluch, weil mit der Personalisierung des Sieges auch die der Niederlage einhergeht: Wenn du es nicht geschafft hast, warst du nicht fleißig genug.

Das ist die dunkle Seite des amerikanischen Traums: Der Sieger wird als Vorbild gefeiert, wer verliert, hat selber schuld. Nur kann es ohne Verlierer keine Gewinner geben. Und eine Gesellschaft, die nur ihre Helden feiert, ignoriert all jene, die auf der Strecke bleiben.

Im Spiel von Sonntag war schon vor dem Anpfiff klar, dass einer der beiden Quarterbacks, Joe Flacco oder Colin Kaepernick, unsterblich werden würde, der andere… nicht. Letztlich ging es nur darum, wer das kurze Streichholz zieht.

Teilen: