Grusel im WLAN

Ich lese gerade „Something Wicked this Way Comes“ („Das Böse kommt auf leisen Sohlen“). In wunderschön verdichteter Sprache erzählt Ray Bradbury die Geschichte eines fahrenden Jahrmarkts, in dessen Zelten und Spiegelkabinetten düstere Geheimnisse lauern. Es ist (unter anderem) eine Gruselgeschichte, die auch über 50 Jahre nach Erscheinen nichts von ihrer Kraft verloren hat.

Dennoch fühlt sich „Something Wicked“ ein wenig aus der Zeit gefallen an. Der Grund ist, dass fahrende Jahrmärkte heutzutage praktisch ausgestorben sind: Sie existieren nur noch in Geschichten. Im Umkehrschluss kann man heute daran, dass eine Geschichte von einem fahrenden Jahrmarkt erzählt, ziemlich sicher erkennen, dass sie vor Jahrzehnten geschrieben wurde (Bradburys Buch ist von 1962).

Parallel dazu bin ich neulich über eine moderne Gruselgeschichte gestolpert. Sie erzeugt ihren Grusel auf dieselbe Art und Weise wie „Something Wicked“, nämlich dadurch, dass ein vergleichsweise alltägliches Ereignis unheimliche Folgen nach sich zieht. Nur ist das Ereignis in diesem Fall kein Jahrmarkt ist, sondern die Verbindung zu einem unbekannten WLAN.

Die Geschichte heißt I shouldn’t have connected to my new neighbor’s WiFi…. (englisch, derzeit 4 Teile) und steht  auf Reddit  unter /r/nosleep. Das ist ein Internet-Diskussionsforum (oder, in Reddit-Lingo, ein Subreddit) speziell für Gruselgeschichten. Der Autor der Geschichte heißt Crapple_Facts (ich gehe davon aus, dass das nicht sein/ihr richtiger Name ist).

So sieht Grusel im 21. Jahrhundert aus (Quelle: Screenshot)
So sieht Grusel im 21. Jahrhundert aus (Quelle: Screenshot)

Hier die Kurzfassung der Geschichte: Als sein eigenes WLAN ausfällt, verbindet sich der Ich-Erzähler kurzerhand mit einem unverschlüsselten Funknetzwerk in seinem Mietshaus. Bald darauf erhält er beunruhigende E-Mails und Videos, in denen es heißt, er werde beobachtet. Ein Unbekannter dringt in die Wohnung des Mannes ein und hinterlässt eine Nachricht am Kühlschrank. Später entdeckt der Mann im Heizungskeller einen Computer, auf dem jemand gigabyteweise private Daten aus seinem Leben gespeichert hat. Irgendwann ist er dann spurlos verschwunden, und nur sein Handy ist Zeuge.

Was die Geschichte interessant macht, ist, wie der Autor mit dem Medium Internet spielt. So wie Bücher, in denen es um Bücher geht, eine besondere Note haben (z.B. Der Name der Rose, Die Unendliche Geschichte, viele Werke von Borges), gewinnt diese im Internet erzählte Geschichte dadurch, dass sie vom Internet erzählt.

Crapple_Facts erreicht dies zum Beispiel dadurch, dass er (oder sie? Ich bleibe der Einfachheit beim häufiger vorkommenden Redditor-Geschlecht) immer wieder Links zu Screenshots und Youtube-Videos einstreut, die die Nachrichten und Ereignisse innerhalb der Geschichte dokumentieren. Auch hat er Codes und Geheimbotschaften in den Text eingebaut. Sobald ein neues Kapitel der Geschichte erscheint, machen sich die Leser daran, sie im Rahmen einer gemeinschaftlichen Schnitzeljagd zu entziffern. (Die dunkle Seite der Medaille ist, dass in Folge 4 durch plumpe Produktnennung der Verdacht aufkommt, dass die ganze Geschichte nichts als  virale Werbung ist. Naja, im Zweifel für den Autor…)

Richtig raffiniert aber ist, wie der Autor diejenigen, die seine Geschichte diskutieren und kommentieren, in die Handlung mit einbezieht. Am Ende von Folge 3 verweist er auf ein Youtube-Video (s.u.), das der Ich-Erzähler während der Entdeckung im Heizungskeller mit seiner Handykamera geschossen haben soll. In dem Moment, als die Kamera den Bildschirm des gefundenen Rechners zeigt, kann man darauf die Benutzernamen all derer sehen, die sich an der Internetdiskussion beteiligt haben. O Schreck: Auch sie sind im Visier des unbekannten Beobachters!

Es ist nicht das erste Mal, dass ein Künstler mit seinem Medium spielt und die Grenze zwischen Handlung und Realität verschwimmen lässt (Krieg der Welten läst grüßen). Aber es ist schön zu sehen, dass dies auch im Internet geschieht, denn es zeigt: Beim Gruseln kommt es nicht auf das Medium an, sondern darauf, dass der Geschichtenerzähler sein Handwerk versteht. Oder, in anderen Worten: Der Spaß am Schaudern ist vor dem Computerbildschirm genauso lebendig wie einst am Lagerfeuer.

Und manchmal, wie hier bei XKCD, gibt es sogar beides zusammen.

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