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Titelbild zur Kurzgeschichte "Blinde Flecken"

Die Tücken des Cyberpunk

In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift c’t ist eine Kurzgeschichte von mir abgedruckt, in der ich eine wenig beachtete Facette der Science Fiction unter die Lupe nehme: Wie fühlt es sich an, mit künstlichen Körperteilen zu leben?

Blinde Flecken, so der Titel der Geschichte, ist (so weit ich das überblicke) nicht als einzelner Artikel käuflich, sondern als Teil des gesamten Hefts für €5,90 oder gratis per Probe-Abo.

Die Coronakrise (aus einem Schüleraufsatz, 3. Klasse)

(Anmerkung: Diese kurze Geschichte habe ich im März oder April 2020 geschrieben, also während des ersten Lockdowns. Was ich da noch optimistisch war …)

Vor zehn Jahren war die Coronakrise. Sie war sehr schlimm, vor allem für meine Eltern, weil die mussten dann viele Wochen lang miteinander zu Hause bleiben und das war bestimmt furchtbar langweilig. Mich gab es damals noch nicht, ich wurde erst neun Monate später geboren. Aber sie haben mir alles erzählt und darum weiß ich, was da los war.

Ich habe meine Mama gefragt, warum es „Coronakrise“ heißt, und sie hat gesagt, ich soll nicht immer so viele Fragen stellen und ob ich meinen Papa schon gefragt habe. Also habe ich meinen Papa gefragt, und der hat gesagt, hmm tja, gute Frage, äh, also er glaubt, das ist nach einer Biersorte benannt, die immer so virales Marketing gemacht hat. Da hat er bestimmt recht, sonst hieße es ja nicht Coronavirus. Ein Virus ist so ein winzig kleines Ding, das man nicht sehen kann, aber es ist trotzdem da. Wenn man es hat, dann kommt es aus der Nase oder dem Mund raus und fliegt genau anderthalb Meter weit durch die Luft, und wenn da welche stehen, stecken die sich an. Darum mussten alle Abstand halten und eine Maske tragen, genau wie im Cowboyfilm

Für Kinder ist das Coronavirus nicht so schlimm, aber Erwachsene können davon krank werden, und wenn sie sehr alt sind oder schon vorher krank waren, dann sterben sie. Und wenn ganz viele gleichzeitig krank werden, dann müssen sie im Krankenhaus auf dem Flur liegen, und dort sterben dann alle. Also ich finde, wenn die Flure so gefährlich sind, sollte man die Krankenhäuser lieber ohne bauen.

Damit nicht alle Erwachsenen auf dem Krankenhausflur sterben, sind die Menschen viele Wochen lang zu Hause geblieben. Vorher sind sie noch schnell in den Supermarkt und haben Klopapier gekauft. Dann ist die Frau Bundeskanzlerin rumgegangen und hat alle Haustüren abgeschlossen, damit keiner mehr rausgehen kann. Nicht mal ins Schwimmbad! Die Erwachsenen haben ihre Arbeit nicht mehr am Computer im Büro erledigt, sondern am Computer zu Hause, und die Kinder mussten nicht zur Schule. Nur Hausaufgaben gab es leider trotzdem. Am glücklichsten waren bestimmt die Hunde, weil die Menschen jetzt den ganzen Tag zu Hause waren, nämlich wenn wir morgens aus der Wohnung gehen, ist Fußhupe jedes Mal sehr traurig. (Eigentlich heißt er Felix, aber Papa nennt ihn immer Fußhupe, wenn Mama es nicht hört.)

Als sie wieder nach draußen gehen durften, waren alle sehr froh. Nur die Hunde nicht. Alles sah anders aus als sonst, nämlich die Parks waren viel sauberer und die Seen und Flüsse hatten so klares Wasser. Die Omas und Opas waren noch am Leben, jedenfalls die meisten. Leider waren ein paar Leute doch heimlich draußen gewesen, weil es ihnen drinnen zu langweilig war, und danach haben sie ihre Großeltern mit Corona angesteckt und die sind dann gestorben. Das war nicht sehr nett.

Es dauerte Jahre, bis Corona besiegt war und keiner mehr davon krank wurde. Aber dass alle die ganze Zeit zu Hause bleiben mussten, das war zum Glück vorbei. Dafür ging jetzt die Wirtschaftskrise los. Eine Wirtschaftskrise ist, wenn ganz viele Restaurants schließen müssen und die Mamas und Papas keine Arbeit mehr haben. Manche hatten nicht mal mehr Essen, nur noch Klopapier! In den Nachrichten haben sich alle gestritten. Einige haben gesagt, Corona sei nur eine Erfindung und andere haben gemeint, schon schade, wenn alle Omas und Opas sterben, aber wenigstens gibt es dann mehr freie Wohnungen in der Innenstadt. Und wieder andere haben gesagt, das ist zwar schon wichtig mit den Vorsichtsmaßnahmen, aber Fußball und neue Autos sind noch wichtiger, und wenn sie die Maske vor Mund und Nase tragen, kriegen sie keine Luft mehr.

Je länger der ganze Streit gedauert hat, umso mehr Leuten ist aber aufgefallen, dass ein paar Sachen plötzlich besser als vorher waren. Zum Beispiel gab es nicht mehr so viele Staus, weil es sind ja viel weniger Menschen mit dem Auto zur Arbeit gefahren. Politiker haben eingesehen, dass schnelles Internet gar kein Luxus ist, wie sie immer dachten, sondern total wichtig. Und Krankenpfleger und Lehrer bekamen endlich mehr Geld für ihre Arbeit.

Aber am Wichtigsten war, dass die Erwachsenen vorher immer gesagt hatten: „Ja, schon schlimm, das mit dem Klimawandel, aber leider können wir ja gar nichts gegen die Erderwärmung machen, denn dazu müssten wir ja unser gesamtes Leben umkrempeln und das geht nun wirklich nicht.“

Doch in der Coronakrise haben die Erwachsenen dagegen gemerkt: „Hey, das geht ja doch.“

Also haben sie angefangen, CO2 zu besteuern. Sie haben Kohlekraftwerke ausgeschaltet und neue Bäume und Windräder gepflanzt. Es gibt mehr Eisenbahnen und weniger Autos. Und fast alle haben aufgehört, Klimawandel zu sagen, weil das so falatistisch … fatalastisch-… weil das so klingt, als könnte man es nicht verhindern, egal was passiert. Jetzt sagen alle Klimakatastrophe. Und die ist schlimm genug, denn es wird noch lange dauern, bis die Erde sich nicht mehr weiter erwärmt und der Meeresspiegel aufhört zu steigen. Aber immerhin versuchen wir jetzt, die Katastrophe weniger schlimm zu machen. Und so hatte die Coronakrise doch noch was Gutes.

Nur schade, dass es nicht für immer schulfrei gibt.

Neue Kurzgeschichte

Ich habe eine neue Kurzgeschichte online gestellt. Hier kannst du „Zeynap“ in voller Länge lesen.

Die Geschichte gehört zum Dankeschön für eine der vielen Unterstützerinnen meiner Crowdfunding-Kampagne, durch die ich im vergangenen Jahr Amoralisch verwirklicht habe. Zu dem Dankeschön gehörte neben der Wunsch-Kurzgeschichte auch das handschriftliche Manuskript. Hier ein Schnappschuss aus dem schmerzenden Handgelenk:

Zeynap (handgeschriebenes Manuskript)
Ein echtes Original.

Wer meine Sauklaue lesen kann, bekommt ein Fleischsternchen :-)

Zeynap

Eine Kurzgeschichte von Tobias Radloff.

Wir waren erst ein paar Stunden unterwegs, aber ich fühlte mich längst wie auf einem anderen Planeten. Wir waren am Hamburger Hauptbahnhof in den Intercity gestiegen und in Münster in die Bimmelbahn. Mit jedem Kilometer, den wir zurücklegten, wurde der Ausblick ein Stück öder. Aus Autobahnen wurden Landstraßen, dann Sträßchen mit Traktorspuren, dann Feldwege. Wir sahen Pferde, Kühe, Schafe, das ganze Bauernhofprogramm. Der Handyempfang war ein Witz. In Lippstadt hatten wir zwanzig Minuten Verspätung angesammelt und unser Bus war gerade weg. Als wir sahen, dass der nächste erst in einer Stunde fahren würde, fielen wir fast vom Glauben ab. Natürlich gab es keinen Starbucks, geschweige denn McDonald’s. Das war also die Provinz.

Es war heiß. Wir saßen im Schatten des Bahnhofsgebäudes und langweilten uns. Bis auf einen Taxifahrer und zwei Skater, die an einem Geländer übten, war niemand zu sehen. Ich fühlte mich beobachtet.

Ich versuchte ein Gespräch anzufangen, aber Sina ließ es zweimal wieder einschlafen. Also ließ ich es bleiben, lehnte mich zurück und schloss die Augen.

Jemand berührte mich an der Schulter „Hey, Bine.“

Ich schrak hoch. „Hmmwas?“

Sina stand über mir, halb in der Sonne. Ich kniff die Augen zusammen. Ihre dunklen Locken leuchteten wie von innen heraus. „Der Bus ist da.“

Ich rieb mir die Augen. „Wird auch Zeit.“

Sina ging voran. Ich trat ihr fast in die Hacken, und dabei trödelte sie sonst nie. Vor der offenen Bustür blieb sie stehen, ohne den Schritt hinauf zu machen.

„Rein oder raus?“ Die Fahrerin ließ den Finger drohend über dem Türknopf schweben, obwohl noch keine drei Sekunden vorbei waren.

Sina holte tief Luft. „Fahren Sie nach Langeneicke?“

Die Fahrerin runzelte die Stirn. „Was wollen Sie denn da?“

Ich drängte mich in die Türöffnung neben Sina. Aus dem Bus kam mir kühle Luft entgegen. „Langeneicke? Liegt das auf Ihrer Route?“

Ihr Blick ging von mir zu Sina und zurück. Dann nickte sie.

„Gut. Zwei Fahrkarten, bitte.“

Wir hatten freie Platzwahl. Offenbar hatte Langeneicke nicht viele Fans. Wir gingen ganz nach hinten durch und fielen fast auf den Arsch, als die Frau am Lenkrad aufs Gas drückte. „Das war garantiert Absicht“, sagte ich, als wir sicher saßen. Ich hatte gute Lust, der Fahrerin den Stinkefinger zu zeigen, aber ich musste mich mit beiden Händen festhalten, um nicht vom Sitz zu fliegen. Doch ich hätte mich auch sonst nicht getraut.

„Wo hat die fahren gelernt, auf dem Dom?“, murrte ich.

Keine Reaktion.

„Sina?“

Sie hatte die Knie gegen den Sitz vor ihr geklemmt, um nicht hin- und herzurutschen, und kramte mit beiden Händen in ihrem Rucksack herum. Ich wusste, wonach sie suchte, bevor sie die Klarsichthülle herausholte. Sinas Lippen bewegten sich, während sie ihre Geburtsurkunde studierte. Der Rucksack rutschte zu Boden, aber sie achtete nicht darauf. Neben ihren Beinen sahen meine käseweiß aus, und dabei trug ich schon den ganzen Sommer über kurze Hosen.

„Sina?“, wiederholte ich.

Sie hob den Kopf. „Hast du was gesagt?“

Ich deutete auf die Urkunde. „Kennst du das Ding nicht langsam auswendig?“

„Belogen hat er mich“, sagte sie. „Mein ganzes Leben lang. Wie konnte er nur!“

Ich ließ mir nichts anmerken. „Ist schon ein dickes Ding.“

„Mein eigener Vater! Und er behauptet allen Ernstes, dass das keine große Sache ist.“

„Eltern. Was will man von denen auch erwarten.“

„Ich meine, es geht ja nur um meine Mutter. Und er sagt, ich reg mich zu sehr auf! Reg ich mich zu sehr auf, Bine?“ Ihre Augen blitzten.

„Auf gar keinen Fall“, versicherte ich.

„Meine halbe Familie hat er vor mir verleugnet. Um mich zu beschützen? Was für ein Schwachsinn!“

„Aber hallo.“

„Ich bin sechzehn! Wie lange will er mich noch wie ein Kleinkind behandeln, bis ich im Altersheim bin?“

„Er will eben das Beste für dich.“

Wir hatten dieses Gespräch schon zig-mal geführt, und meistens hielt ich mich ans Drehbuch. Jetzt war ich davon abgewichen. Sina starrte mich an, als wollte sie gleich Funken sprühen. „Stehst du etwa auf seiner Seite? Du denkst also auch, dass ich von der großen weiten Welt ferngehalten werden muss?“

Ich war ihr nicht böse. Nicht nur, weil Sina nun mal Sina war, sondern weil ich ihren Ärger gut verstehen konnte. „Sina, du bist die letzte, von der ich das denke. Willst du wissen, warum?“ Ich deutete aus dem Fenster. Mittlerweile waren wir aus Lippstadt heraus und fuhren durch endlose Felder. Ein grüner Kirchturm in der Ferne war das einzige Anzeichen von Zivilisation. „Weil wir am Arsch der Heide sind. Auf dem Weg zu deiner Familie.“

„Sippe.“

„Was?“

„Sippe. So heißt die Familie bei … Bei denen.“

„Gut, dann sind wir also auf dem Weg zu deiner Sippe. Es kommt trotzdem aufs Gleiche raus: Du lässt dich nicht aufhalten. Von nichts und niemandem.“

„Meinst du wirklich?“

Bei jeder anderen hätte ich vermutet, dass sie nach Komplimenten fischt. Bei Sina wusste ich, dass sie es ernst meinte. „Natürlich.“

„Ach, Bine“, sagte Sina und lehnte sich an mich. „Was würde ich nur ohne dich machen.“

„Und ich erst ohne dich.“

Sina rutschte weiter nach unten, bis ihr Kopf auf meinem Schoß lag. Ich drehte eine ihrer Locken auf meinen Finger.

„Ich bin froh, dass du hier bist, Bine. Auch wenn ich dich erst nicht dabeihaben wollte.“

Sie wollte noch mehr sagen, aber ich legte ihr den Finger auf die Lippen. „Schon okay.“

Ich strich ihr über die Wange. Der Bus schaukelte sanft, und ich schloss die Augen und wünschte, wir würden ewig so weiterfahren.

Dann stoppte der Bus. Die Türen zischten, Sina setzte sich wieder auf und ich vermied ihren Blick und betrachtete stattdessen die neuen Fahrgäste. Sie waren zu dritt, hatten nasse Haare und Dauerkarten für den Bus. Das T-Shirt des Mädchens war auf Brusthöhe durchnässt, denn sie hatte ihr Bikinioberteil nicht gewechselt. Sie hatte grüne Augen und schöne Hände. Die beiden Jungs duellierten sich mit ihren Handtüchern, bis die Busfahrerin sie anraunzte und sie schnell nach hinten durchgingen.

Sie setzten sich zwei Reihen von uns entfernt hin. Ihre Unterhaltung drehte sich um eine Scheunenfete und sie taten so, als interessierten sie sich nicht für uns. Lange hielten sie das aber nicht durch.

„Hey.“ Der größere der beiden Jungs rutschte einen Sitz näher zu uns heran und kratzte sich wie zufällig am Bizeps. Sein Aldi-Deo waberte mir entgegen. „Wo fahrt ihr beiden denn hin?“

Ich sah ihn kurz an und dann wieder weg. Aber er war sowieso mehr an Sina als an mir interessiert. Sie ignorierte ihn und tat so, als wäre sie mit ihrem Rucksack beschäftigt.

„Seid ihr taub?“, fragte der Typ.

Jetzt sah Sina auf, so als würde sie ihn erst jetzt bemerken. Vielleicht stimmte das sogar. „Nein. Du?“

Die beiden anderen kicherten. So leicht gab er aber nicht auf. „Ihr seid nicht von hier, oder?“

Sina sah ihn offen an. „Das stimmt, wir sind nicht von hier.“

„Von wo seid ihr dann?“

„Hamburg.“

Sein Blick wanderte von Sina zu mir und wieder zurück. „Ihr beide?“

„Nein, nur ich. Bine hier ist vom Mars.“

Wieder sah er mich an, und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass er mich tatsächlich wahrnahm. „Dir nehme ich Hamburg ab“, sagte er zu mir, und ich schämte mich für die Bemerkung, obwohl ich überhaupt nichts dafür konnte.

„Warum nicht uns beiden?“

Er zuckte die Achseln. „Du siehst halt nicht so aus“, wandte er sich wieder an Sina. „Dafür kann ich schließlich nichts.“

„Wie sehe ich denn aus?“, fragte sie.

„Hmm? Ja, keine Ahnung. Anders halt.“

„Anders? Aber wie?“

„Nach Türkei sieht sie aus“, klang es gedämpft vom Sitz hinter ihm.

Sina beugte sich vor und fixierte das Mädchen mit dem nassen Bikiniabdruck. Sie tat erst so, als bemerkte sie es gar nicht, aber Sina starrte sie so lange an, bis sie den Blick erwiderte.

„Ich komme nicht aus der Türkei“, sagte Sina zu ihr. „Ich komme aus Hamburg.“

„Was weiß ich“, murrte das Mädchen. „Frag halt deine Mutter.“

„Würde ich gerne. Leider ist sie tot.“

Ganz kurz entgleisten ihre Gesichtszüge. Dann verschränkte sie die Arme vor den Brüsten, sagte „Tja, Pech“ und kümmerte sich nicht um die Blicke ihres Kumpels, dem sie gerade die Tour vermasselte.

Dafür witterte jetzt der dritte im Bunde seine Chance. Sein Gesicht war schmal und irgendwie niedlich, Typ Kleiner Bruder. Der hätte mir unter anderen Umständen gefallen können. „Also, wohin wollt ihr beiden denn jetzt?“, fragte er uns beide.

Ich wartete kurz. Sina schwieg, und so antwortete ich: „Langeneicke.“

Er nickte fachmännisch. „Hab ich mir gleich gedacht. Besucht ihr wen?“

„Mehr oder weniger.“

Das Mädchen murmelte etwas, das ich nicht verstand.

„Bleibt ihr länger?“, fragte er. „Ich wohne hier ganz in der Nähe. Wenn ihr Lust habt-“

„Wir sind gleich da, Eike“, fiel ihm der deodorierte Typ ins Wort, den Finger auf dem Haltewunschknopf. „Hör auf zu quatschen und vergiss dein Handtuch nicht.“

„Ich hab dir schon tausendmal gesagt, du sollst mich Eddy nennen …“

Er hörte gar nicht hin. „Ey“, sagte er zu Sina, „gib mir mal deine Nummer. Ich kenn mich hier aus, ich zeige dir alles, was du sehen willst.“

Sina verzog keine Miene. „Danke, aber ich komme aus der Großstadt. Und hier ist alles so klein.“

Im Gesicht des Typen arbeitete es. Das Mädchen stand im Gang, ebenfalls missgelaunt. Nur Eike feixte, oder Eddy oder wie er hieß. Der Bus bremste scharf und die Türen gingen auf, bevor er zum Stillstand kam.

„Zigeunerschlampe“, knurrte er, bevor er mit den beiden anderen ausstieg. Die Türen gingen zu und mir fiel auf, dass ich die Luft angehalten hatte.

„Was für Hohlroller“, sagte Sina.

Ich sah verstohlen zu ihr hinüber. Wie ich sie dafür bewunderte, dass sie nie Angst hatte. Wo ich fürchtete, mich zu verplappern, sagte Sina, was sie dachte. Während ich auf den richtigen Moment wartete, tat sie, was sie für richtig hielt. Alles, was ich tun konnte, war zu versuchen, mit ihr Schritt zu halten.

Langeneicke war ein Viereck aus Häusern um eine große leere Fläche herum. Drumherum waren Felder und Wiesen, so weit das Auge reichte. Es roch nach frischem Heu, und wenn mich jemand gefragt hätte, woher ich den Geruch von frischem Heu kannte, hätte ich keine Antwort gehabt.

„Das ist es also“, sagte sie. „Nicht schlecht.“

Ich sah dem davonrasenden Bus nach. „Und was jetzt?“

„Petřa holt uns ab, hat sie gesagt.“ Halb rollte, halb zischte Sina das „r“ und fügte es ohne Stolpern an das „t“ an. Mir ist es nie gelungen, den Laut nachzumachen, sooft ich es auch versucht habe.

„Und wenn sie nicht kommt?“

„Sie wird kommen. Sehen wir uns ein bisschen um?“ Sie wartete nicht auf meine Antwort, und ich hatte keine Wahl, als hinter ihr her zu trotten.

Die leere Straße kam mir vor wie ein Präsentierteller. Meine Hand fand das Pfefferspray in der Hosentasche, das ich während der Episode im Bus völlig vergessen hatte. Sina und ich hatten die Rollen getauscht. Jetzt war ich nervös und sie völlig locker.

Endlich ein Lebewesen: Eine Bäuerin kam uns entgegen. Mit ihren Birkenstocks und dem Kittelschürzenkleid sah sie wie der Inbegriff der Dörflichkeit aus. So braun gebrannt, wie sie war, pflügte sie vermutlich täglich den Acker und ging mit den Hühnern ins Bett.

„Sizma?!“

Die Bäuerin war stehengeblieben und sah Sina mit offenem Mund an. Ich sah ihr ins Gesicht und erkannte erst jetzt, dass ihre Bräune nicht von der Sonne stammte. Sie war eine Sinti. So wie Sina.

„Äh, ich heiße Sina. Ich meine, Zeynap“, stotterte Sina. „Sizma war der Name meiner Mutter. Sizma Badžo.“

Die Frau legte die Hände auf Sinas Oberarme. Sie sprach praktisch ohne Akzent, nur die „R“s rollte sie ein wenig. „Du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Als ich dich eben sah, dachte ich, sie steht leibhaftig vor mir.“

„Sie kannten meine Mutter?“

Petřa warf den Kopf in den Nacken und lachte, dass ihre Armreife klingelten. Sie waren das einzige, das dem Bild entsprach, dass ich mir von einer Zigeunerin gemacht hatte. Keine Spur dagegen von wallenden Röcken, Kopftuch oder krummen Rücken.

„Ob ich sie kannte? Jeder aus der Sippe kannte deine Mutter! Und hör bloß auf mit den Förmlichkeiten. Wir sind Familie!“

Sie schloss Sina in die Arme und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Zögernd erwiderte Sina die Geste. „Ich weiß nichts von ihr. Sie starb, als ich geboren wurde. Bis vor wenigen Tagen glaubte ich, ihr Name wäre Sigrid Becker. Ich wäre sonst schon viel früher hierhergekommen …“

„Es ist gut. Ich werde dir alles erzählen, was du wissen willst.“

Sina lächelte. So glücklich hatte ich sie selten gesehen.

Petřa ließ sie los und sah mich prüfend an. „Und du bist …?“

„Sabine ist eine Freundin von mir“, kam Sina mir zuvor. „Sie hat darauf bestanden, mich auf der Fahrt hierher zu begleiten. Damit mir nichts passiert.“ Bildete ich es mir ein oder war ihr Tonfall spöttisch?

„Und sie hat gut daran getan. Willkommen, Sabine.“

„Bine“, sagte ich automatisch. Sofort war es mir peinlich. „Ich hoffe, Sie sind nicht böse, wo ich doch gar nicht eingeladen war …“

„Zeynaps Freunde sind bei uns so willkommen wie sie selbst“, sagte Petřa. „Ich bin sicher, auch dir wird es bei uns gefallen.“

Wieder ergriff Sina das Wort. „Aber Bine, hattest du nicht gesagt, dass du dir lieber Langeneicke ansehen willst?“

Um ein Haar hätte ich auf unsere Freundschaft geschissen. Aber dann sah ich das Flehen in ihren Augen und wusste, dass ich ihr das nicht antun konnte. Das hier war Sinas Besuch. Sinas Vergangenheit. Zeynaps Zukunft.

„Ja“, sagte ich, einen tonnenschweren Kloß im Hals. „Lieber möchte ich mich den Nachmittag über allein umschauen.“

Petřa sah mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. „Bist du sicher?“

Ich nickte. Sina drückte mich an sich, drehte sich um und ging mit Petřa zusammen die Straße hinunter.

Langeneicke waberte vor Hitze. Ich sah den beiden nach, und kurz bevor sie um die Ecke bogen, geschah etwas Merkwürdiges: Zeynaps Gang veränderte sich, wurde sicherer, und für einen Moment wusste ich nicht mehr, welcher der beiden Umrisse ihrer war. Dann waren sie weg. Irgendwo krähte ein Hahn und ich spürte den Sonnenbrand, der sich in meinem Nacken anbahnte.

Ich ging zurück zur Bushaltestelle und stellte mir vor, wie Zeynap und ich in zehn oder fünfzehn Jahren miteinander telefonierten, unser jährliches Gespräch, der alten Zeiten willen, ich in Hamburg und sie in Langeneicke oder Norwegen oder auf den Fidschi-Inseln. Ich hatte keine Ahnung, worüber wir reden würden. Aber ich war mir sicher, dass ich sie immer noch vermissen würde.

 

Creative Commons Lizenzvertrag

„Zeynap“ von Tobias Radloff steht unter einer Creative Commons 4.0 Lizenz (Namensnennung – Nicht-kommerziell – Weitergabe unter gleichen Bedingungen).

Mehr zum Hintergrund und der Entstehung der Geschichte erzähle ich hier.