Bonusmaterial: Unveröffentlichte Szene aus Der Pilot

Der Artikel über die neuen Möglichkeiten für Autoren im Netz (siehe letzter Eintrag) geht mir noch im Kopf herum. Aus diesem Anlass stelle ich eine bislang unveröffentlichte Szene aus Der Pilot bereit, sozusagen als kleines Schmankerl für meine Leser und die, die es noch werden wollen.

Die Szene spielt auf dem Landsitz von Lord Chesterfield, wo eine Schießübung stattfindet. Ursprünglich gehörte die Szene ins zweite Kapitel. Später strich ich sie wieder heraus. Bis heute schlummerte sie in meiner Schublade (bzw. meiner Festplatte) vor sich hin, doch jetzt erwacht sie im Internet zu neuem Leben. Ein Hoch auf die neuen Medien!

Und hier ist nun die Szene. Viel Spaß beim Lesen.

Exercise

Schwer atmend trug Stefan Chesterfield die Treppe hinab. Auf der Terrasse setzte er den Engländer in einen bequemen Stuhl und wickelte ihn in Decken, um ihn vor der Kühle zu schützen. Er selbst nahm ein Stück abseits Platz.

Im Garten roch es nach feuchter Erde und Huflattich. In einigen hundert Yards verschluckten Nebelschleier das glitzernde Gras. Die Watteschwaden verschmolzen mit den tief hängenden Wolken zu einer undurchdringlichen Wand und reduzierten die Welt auf eine Schlachtfeldbreite. Stefan fühlte sich wie ein Gestrandeter, dessen Lebensraum sich nur so weit erstreckte, wie er einen Stein werfen konnte. Auch Chesterfield sah mit steinernem Gesicht in den Nebel. Stefan fragte sich, ob der Pilot sich ebenfalls verloren fühlte, oder ob ihn eine unbehinderte Sicht nicht viel eher schmerzen musste, ein Blick in Fernen, die ihm früher einmal zu Füßen gelegen hatten.

Schritte auf den nassen Steinen rissen Stefan aus seinen Gedanken. Es war Margaret. Gegen ihre kurzen Haare und den pelzbesetzten Mantel wirkte ihr Gesicht blasser, als es war. Sie wartete, bis Chesterfield aufsah, bevor sie fröstelnd die Arme um den Körper schlang.

Stefan verbeugte sich vor ihr. „Good morning, Madam. It’s a pleasure to see you.“ Seine Worte kamen von Herzen. Margaret mied ihren Vater wie einen Cholerakranken, so dass er nach seinem ersten Tag keine Gelegenheit gehabt hatte, mit ihr zu sprechen.

„Does he force you to shoot as well?“, fragte sie knapp.

„I beg your pardon?“

Sein Gesicht musste seine Ratlosigkeit wiederspiegeln, denn ein belustigter Ausdruck huschte über ihr Gesicht. In diesem Moment machte Chesterfield sich bemerkbar.

„And a good morning to you too, dear Margaret. Since you choose to renounce any courtesy, you should do it thoroughly. So ready yourself instead of wasting time with idle chatting.“

„I agree, father, but only on that we should finish this pointless labour quickly“, entgegnete sie frostig.

„I have explained to you on several occasions why this exercise is important. I am not in the mood to discuss it once again. If you’re still upset with me about that letter, so be it. But right now that doesn’t matter. Stephen, bring Margaret the gun.“

Chesterfield deutete auf ein Gewehr, das an der Hauswand lehnte. Es war ein schweres Modell mit Doppellauf. Stefan nahm es auf und reichte es Margaret, doch sie machte keine Anstalten, danach zu greifen.

„So you are still convinced that the Germans will invade Great Britain, father? That I will have to defend myself against them?“

„I don’t trust them“, gab er zurück, „and neither should you.“

„Why should we just guess if we can ask? Stephen,“ wandte Margaret sich an den Deutschen, „tell us, are you planning to invade our country? How many days do we have left?“

Stefan machte einen überraschten Schritt zurück. „Madam, I don’t know anything about an invasion. In fact, I don’t believe such plans even exist.“

„Don’t be silly, Margaret.“ Chesterfields Worte hatte einen geringschätzigen Unterton. „Do you really think a nurse would know anything about military plans? Anyway, nobody knows what may happen in a year, or in twenty. As soon as the next war puts Europe to the torch, you will thank me for being able to take care of yourself.“

„I will thank you now if you just admit this exercise is nonsense.“

Er schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. „Look at me. I can barely protect you now. Once I’m dead, you will be on your own. What will you do when it happens?“

„When what happens?“ Margaret machte eine weit ausholende Bewegung, die Bäume, Sträucher und den Nebel einschloss. Die Nebelwand hatte zu zerfasern begonnen und ließ Felder und leere Hügel erahnen. „Chesterfield Manor is in the middle of nowhere, father. There’s nothing here to invade.“

„They may come anyway“, beharrte Chesterfield, „and I’m making sure you are prepared for this day.“

„Wake up, father“, rief Margaret. „Nobody will ever come here. No-one! Do you know what the only result of your stupid exercise will be? The smell of gunpowder on my hands!“

Sie war im Begriff, ins Haus zurückzustürmen. Stefan erwartete einen Wutausbruch von Chesterfield, doch erstaunlicherweise blieb der Alte ruhig. Stattdessen gab er seine Stimme einen weinerlichen Klang, als er sagte:

„Go ahead, Margaret. Go and leave the old, broken man behind who happens to care for you. Be sure to tell everyone how deeply you hurt your father, so your own voice will cover the sound of my heart breaking.“

Margaret hatte im Schritt innegehalten. Ihr Gesicht war eine starre Maske, doch Stefan konnte sehen, dass es darunter brodelte.

Endlich drehte sie sich um und riss Stefan grob das Gewehr aus der Hand. „Ten shots, father. Not one more.“

Triumph huschte über Chesterfields Züge. „Maybe. If you do better than last week, that is.“

Margaret überprüfte mit routinierten Bewegungen, ob die beiden Gewehrläufe geladen waren. Dann nahm sie an der Begrenzung der Terrasse Aufstellung. Auf der Wiese stand mittlerweile eine Zielscheibe aus Stroh, die Mr. Hunt aufgestellt hatte. Sie hatte die Form eines menschlichen Torsos und trug eine durchlöcherte Uniformjacke des deutschen Heeres. Der Butler setzte ihr noch eine Pickelhaube auf den Strohkopf, dann beeilte er sich, aus dem Schussfeld zu kommen und verschwand hinter einer Hausecke.

„Ten shots“, wiederholte Margaret. Sie legte an. Der Schuss löste sich mit lautem Krachen und verfehlte die Puppe.

„What was that?“, rief Chesterfield aus. „You missed by at least five yards!“

Margaret errötete. Ihr zweiter Schuss traf die Zielscheibe in der Bauchgegend, doch auch diesmal war ihr Vater nicht zufrieden. Während sie nachlud, schalt er sie, weil der Rückstoß der Waffe sie ins Taumeln gebracht hatte.

„Where did you get a gun like this, Sir?“, wandte Stefan ein. „It’s so heavy. I don’t think that I could hit anything with it.“

„I don’t expect you to hit your meal with a fork!“, schnaubte Chesterfield. „Now shut up and let her shoot.“

Margarets nächste Kugel verfehlte die Strohpuppe um Haaresbreite. Chesterfield murmelte eine Verwünschung. Mit zusammengepressten Lippen zielte sie erneut. Obwohl sie sich redlich bemühte, traf von ihren nächsten Schüssen kein einziger. Mit jedem Fehlschuss wurde Chesterfields Kritik schärfer, und auch Margarets Anspannung wuchs. Als sie nachlud und das Gewehr ein weiteres Mal anhob, rann eine Schweißperle über ihre weiße Stirn.

Der Schuss ging weit an der Zielscheibe vorbei und ließ die regennasse Erde des Gartens aufspritzen. Chesterfield explodierte.

„Outrageous! You shoot worse than ever, Margaret! Did you aim at all? You wouldn’t be able to hit a German soldier if a thousand of them were storming across the green!“

Margaret rang sichtlich um ihre Fassung. „Stop screaming at me, father. I hit, didn’t I?“

„One out of nine? I could do that with my eyes closed. In a war you would have been killed a dozen times by now.“

„The gun is too heavy for me.“

Chesterfields Finger zuckte vor wie eine Kugel aus einem Pistolenlauf. „Don’t give me excuses! You’re the telling she can do anything. You wear your hair short, you sing and dance in front of crowds like no lady ever would, but now you can’t fire a weapon properly? I expected more, even from you.“

Margarets Hände verkrampften sich um das Gewehr, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Doch Chesterfield war noch nicht fertig. „Do you know what it means to fight for something, Margaret? Do you know what it means to fear for your life? No, you don’t, because then you wouldn’t hide behind excuses. Shooting is easy. You hit or you don’t, there’s nothing more to it. Why can’t you do even this simple thing? Hell, even the nurse could do better than you. Why do you always make a fool of yourself? If you can’t even handle a gun, how can you seriously believe that you belong on a stage? After your poor performance today I think that I did you a favour when I wrote to Lord Parkins. I saved you a lot of embarassment!“

Margaret stand verkrümmt vor seinem Stuhl, das Gewehr schräg an den Körper gepresst. „One more word, father …“, stieß sie hervor.

„And you’ll do what?“, brüllte er zurück. „Shoot me? You’ll miss anyway!“

In Margarets Augen flackerte es. Im selben Moment stand Stefan auf, so abrupt, dass sein Stuhl umfiel. Die Köpfe beider Chesterfields fuhren herum. Als sich ihre hasserfüllten Blicke auf ihn richteten, musste er schlucken.

„Lady Chesterfield, Sir, I … I would like to fire a shot. That is, if you please. Of course I have to admit that your father is right, Madam. I am just a nurse and cannot expect to match your prowess. But I’d like to try anyway. Please.“

Margaret blinzelte. Sie sah aus, als erwache sie aus einem düsteren Traum. Mit einer ruckartigen Bewegung streckte sie dem Deutschen die Waffe entgegen, als sei das Metall plötzlich glühend heiß geworden.

Stefan verlor keine Zeit. Er nahm das Gewehr, legte an, zielte und schoss. Der Rückstoß riss den Lauf in die Höhe, und die Kugel zischte harmlos über die Zielscheibe hinweg. Stefan stieß einen Schmerzenslaut aus und ließ die Waffe auf die Steine der Terrasse fallen.

Chesterfield lachte hämisch. „What a spectacular show. A nurse with a gun! Stephen, it’s you who should be the one on stage.“

„Yes, Sir“, sagte Stefan zwischen zusammengebissenen Zähnen. Der Schmerz in seiner geprellten Hand trieb ihm die Tränen in die Augen.

„And I’ll fire you the next time you touch a dangerous device in my house“, setzte der Alte nach. „Especially guns. You could have killled someone.“

„I’m sorry, Sir.“

„Margaret, where are you going? We haven’t finished yet!“

„Father, don’t …“

„Oh no!“, rief Stefan zerknirscht aus und hob das Gewehr auf. „Sir, could you take a look at the barrel? It looks twisted, maybe from the fall to the ground. But you understand more of these things than I do.“

„You twisted the barrel?“ Chesterfield riss ihm das Gewehr aus der Hand und besah den Lauf. Mit den Fingern fuhr er über das Metall, um Unregelmäßigkeiten zu ertasten. Dann verdüsterte sich seine Miene.

„I don’t believe it! You clumsy German fool twisted the barrel like a lamb’s tail. This gun must be fired until it is repaired, or it might explode.“

„Sorry, Sir. I will pay for the repair.“

„Oh, you will pay as surely as Germany pays for the lost war“, schimpfte Chesterfield. „Now bring me back inside, and please do try to avoid any further incidents. You have caused enough trouble for one day already. Margaret, it seems you’re in luck. This week’s exercise is over.“

Als Stefan Chesterfield von seinen Decken befreite, sah er verstohlen zu Margaret herüber. Sie schaute in die Ferne, und ihre Augen schimmerten.

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